Ein wenig was zum Schmunzeln über das Thema Messer
https://www.zeit.de/2005/33/Taschenmesser_33/komplettansicht
Hier der Text als Vollzitat.
"Die dritte Hand
Seit den Attentaten vom 11. September 2001 macht das berühmte Schweizer Offiziersmesser schwierige Zeiten durch. Neue Ideen und die deutsche Bundeswehr sollen das Unternehmen retten
Von Ruedi Leuthold
11. August 2005 Quelle: (c) DIE ZEIT 11.08.2005 Nr.33
Es war das Standardmodell 1.3603, Spartan, große Klinge, kleine Klinge, Korkenzieher, Dosenöffner, Zahnstocher und Pinzette – alles, was man zum Überleben braucht. Natürlich hätte unter Umständen auch ein Fischentschupper mit Angellöser, wie ihn etwa das SwissChamp, Modell 1.6795, mit sich führt, praktisch werden können. Lange Erfahrung hat mich aber gelehrt, dass diese Umstände praktisch nie eintreffen. Ich hatte also, wie immer, das einfache Schweizer Offiziersmesser bei mir, 91 mm lang, mit dem üblichen Schweizerkreuz auf der roten Polyamid-Hartschale und der Firmenaufschrift auf der Klinge, die Gewähr dafür, dass es sich nicht um eine billige chinesische Kopie handelt. Sondern um den einzig garantiert rostfreien Begleitservice für den unternehmungslustigen Mann, ein Markenzeichen der Zuverlässigkeit in allen Lebenslagen: das Swiss Army Knife der Messerschmiede Victorinox in Ibach, Kanton Schwyz.
Deshalb also führte ich Spartan mit mir, aus reiner Gewohnheit. Für irgendetwas war es immer brauchbar, manchmal auch nur als Geschenk. Ich ging jedoch nie so weit wie ein Schweizer Bekannter, ein Fotograf, der seine Messer, wenn er irgendwo in fernen Ländern einen treuen Bediensteten gefunden hatte, nur unter Tränen verschenkte und behauptete, dies sei seine persönliche, vom Großvater vererbte Dienstwaffe.
Dabei ist das Messer allein schon ein Mythos, dem es auf geheimnisvolle Weise gelingt, auch seinen Besitzer zu veredeln. Das geht aus den zahlreichen Geschichten hervor, die unter dem Titel True Stories auf der Homepage der Firma Victorinox nachzulesen sind. Da bestieg eben erst ein Herr Faforke, ausgerüstet mit dem Modell 1.3705, eingebauter Höhenmeter, den Kilimandscharo. Glücklich darüber, dass sein Taschenmesser sich nur gerade um zwei Meter verrechnet hatte, 5897 Meter statt 5895 Meter, schenkte er es "seinem stolzen afrikanischen Bergführer Joseph, der es mit dem strahlenden Gesicht eines Kindes an Weihnachten entgegennahm".
Nur zwei Meter Abweichung auf dem Kilimandscharo
Bedenkt man nun allerdings, wie viele Expeditionen der stolze Joseph wohl schon auf den Kilimandscharo begleitet hat und wie viele zufriedene Kunden im Höhenrausch sich ihr gutes Herz für den edlen Wilden bestätigen wollten, kann man davon ausgehen, dass es Joseph längst nicht mehr wagen kann, seinen Kindern zu Weihnachten ein Schweizer Armeemesser zu schenken. Genauso wie es, rings um den Erdball verstreut, unzählige Indianerhäuptlinge, Nomadenführer und Tauchlehrer geben muss, die unvorstellbare Reserven an Schweizer Taschenmessern angehäuft haben, weil ihnen nach bestandener Gefahr so mancher seine unverbrüchliche Freundschaft angedreht hat.
Diese Vorräte werden ihnen nun nützlich sein. Denn so bald werden sie möglicherweise kein neues Schweizermesser bekommen.
Die Sicherheitskontrolle am Fughafen Charles de Gaulle in Paris beschlagnahmte mein Spartan und gab es nicht zurück. Es hatte, bereit für einen Notfall, der nie eintreffen würde, in einem Nebenfach des Toilettenbeutels gelegen. Und der befand sich im Handgepäck. Am Flughafen in Zürich war mein Gepäck, wohl dank dieser einzigartigen schweizerischen Mischung aus Neutralität, Heimatschutz und Geschäftssinn, unbehelligt geblieben. Die Franzosen aber, bei der Zwischenlandung, pflückten nach der elektronischen Durchleuchtung meinen Rucksack heraus, griffen sich das Messer mit Plastikhandschuhen und beschlagnahmten es finster, und jeder Widerstand wäre wenig ratsam gewesen. Denn die Sympathien der Mitpassagiere lagen eindeutig auf der Seite des Sicherheitspersonals. Mit einem Schlag lag Feindseligkeit in der Luft, die Leute wichen zurück, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Und nicht ein Schweizer Offiziersmesser, das uns allen vielleicht sogar das Leben retten könnte.
Wie eben erst geschehen, als in einem Privatflugzeug unvermittelt der Strom ausfiel und ein Passagier kühn zu seinem Victorinox Midnite-Manager griff, Klinge, Schere, Kugelschreiber, eingebaute Leuchtdiode, und den Piloten im Dunklen das Armaturenbrett erleuchtete, was denen wiederum eine sichere Landung ermöglichte. Gerade wegen derartiger Vorfälle sprechen nicht wenige Männer von der "dritten Hand", wenn sie von ihrem Schweizer Taschenmesser reden.
Sinnlos, all dies jetzt anführen zu wollen. Ich stand eindeutig unter Verdacht, erstens, aus reiner Blödheit den mühseligen Vorgang des Sicherheitschecks zu verzögern und, zweitens, vielleicht doch mit üblen Absichten bewaffnet gewesen zu sein. Bloßgestellt und gedemütigt ließ ich mein Spartan ohne jeden Protest zurück und versteckte mich im hintersten Winkel des Warteraums.
Am 8. Juli 2001, auf einem Zwischenhalt von Madrid nach Miami, kaufte sich der Messerfetischst Mohammed Atta im Flughafen Zürich, wie unzählige Reisende vor ihm, zwei Schweizer Offiziersmesser der Firma Victorinox, das belegten später Kreditkartenrechnungen. Kurz darauf sollte das nicht mehr möglich sein, denn zwei Monate später bestieg er ein Flugzeug in Boston und entführte es, bewaffnet jedoch mit einem gemeinen Teppichmesser, in die Türme des World Trade Center in New York. Seitdem dürfen keine noch so kleinen Messer im Handgepäck mitgeführt werden, und seither muss sich, zum ersten Mal in der Firmengeschichte der Messerschmiede Victorinox in Ibach, Schweiz, ein Karl Elsener – es ist der vierte – mit einem Verkaufsrückgang auseinander setzen.
Ibach ist ein Vorort von Schwyz, dem Hauptort des gleichnamigen Kantons im Herzen der Schweiz, und was sich von dieser Gegend an Erfreulichem betonen lässt, ist ihre Nähe zu den Bergen und einigen kühlen Seen. Aber diese Agglomeration am Fuß des Großen und des Kleinen Mythen heißt jetzt, nach einer gewagten Marketingaktion, Swiss Knife Valley. Und allein daraus mag sich erschließen, wie groß die Verzweiflung der Verantwortlichen war, als die Verkaufszahlen ihres Erfolgsprodukts nach dem 11. September plötzlich um 30 Prozent zurückgingen. Denn bis dahin hatte es die Firma kaum nötig gehabt, Werbung zu machen. Ihre Messer, vielfältig und legendenumrankt, verkauften sich wie von selbst; ihr Gebrauch schmiedete Generationen zusammen, und einige ausgefallene Exemplare, in kleiner Auflage gestreut, entfachten eine weltweite Sammlerwut.
In Amerika, Massachusetts, härtete John Russel das berühmte Green River Knife, das Jagdmesser der Trapper und Fallensteller. Die Franzosen besaßen ihre königliche Messerschmiede in Langres, die Engländer in Sheffield. Solingen in Deutschland war voll von Klingenschmieden, Härtern, Schleifern und Schwertfegern, die ihre Messer mit den bekannten Silberbuckeln in alle Welt verkauften. Und nichts, aber auch gar nichts, deutete daraufhin, dass ein kleiner Handwerker aus Ibach im Kanton Schwyz das Messer aller Messer schaffen würde, die multifunktionale Veredelung aller Männerträume seit der Steinzeit.
Karl Elsener selber, Karl Elsener der Vierte, erwartet mich im Fabrikgebäude der Victorinox, 920 Angestellte vor Ort, die jährlich 2400 Tonnen Stahl zu 700 verschiedenen Haushalts,- Berufs- und Taschenmessern verarbeiten, kein Arbeitsgang ist ausgelagert nach China oder Brasilien, selbst ihre Maschinen stellen die Leute in Ibach selbst her, und in kleinen Arbeitspausen entspannen sich die Arbeiter nach den Methoden der Alexandertechnik.
1884, nach Jahren der Wanderschaft, in denen er sich, sowohl in Frankreich wie in Deutschland, mit den Geheimnissen des Rasierwerkzeugs vertraut gemacht hatte, eröffnete Karl Elsener der Erste in einer ehemaligen Mühle am Tobelbach in Ibach seine eigene Messerschmiede. Als der Firmengründer feststellte, dass die Schweizerische Militärverwaltung ihre Soldatenmesser aus dem deutschen Solingen bezog, fühlte er sich in Ehre und Geschäftssinn gekränkt und schlug ein eigenes Produkt vor. Die Anstrengung brachte ihn an den Rand des Ruins, doch er erhielt den Armeeauftrag. Dann schuf er ein leichteres Messer mit einer zusätzlichen Klinge, mit Bohrahle, Dosenöffner, Schraubenzieher und Korkenzieher, das "Schweizer Offiziersmesser". Dieses allerdings wurde von der Schweizer Armee nie benutzt, wie mir Karl Elsener der Vierte jetzt gesteht, aber es bildete das Grundmodell für alle künftigen Generationen, Modell 1-36-3.
"Und das Klicken gehörte auch schon dazu", fügt Karl Elsener bei, "das charakteristische Klicken, wenn die Klingen einschnappen. Ohne das Klicken ist es kein Victorinox."
Victoria hieß die Frau des Firmengründers, und als der rostfreie Stahl erfunden wurde, Inox genannt, wurde aus der Verbindung der beiden Namen eine Weltmarke. Aber das geschah erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als die amerikanischen Soldaten das Swiss Army Knife in die USA brachten und eine Nachfrage auslösten, die nicht mehr abzunehmen schien, heute besitzt die Firma Handelsvertretungen in 130 Ländern, 480 Angestellte außerhalb der Schweiz.
Karl Elsener der Vierte, offenes Hemd, die scharf geschnittene Nase wie von einem hauseigenen Designer modelliert, führt mich in ein kleines Arbeitszimmer, vor sich einen Musterkoffer. Von seinen Vorgängern die Tugend der Bescheidenheit geerbt. Er fährt einen Peugeot 306, das Familienvermögen ist in einer Stiftung untergebracht. Er erinnert sich zurück, sechziger Jahre, als sein Vater, Karl Elsener der Dritte, einmal im Jahr den USA-Vertreter empfing, und wie es dem Buben vorkam, als sei der Abgesandte eines fremden Königreichs zu Besuch. Das Sortiment wurde, oft nach Vorschlägen der Vertreter, ausgebaut. So entstand das berühmte SwissChamp, 33 Funktionen, 64 Einzelteile, 450 Fertigungsschritte, und es entstanden einige ausgefallene Kombinationen wie das SwissChamp XLP, 74 Funktionen, 5,8 Zentimeter breit, 285 Gramm schwer, oder ein edelsteinbesetztes Messer, 800 Diamanten, 129000 Franken. Mehrere amerikanische Präsidenten bestellten sich Taschenmesser aus Ibach, um sie, mit ihrer Unterschrift eingraviert, zu verschenken. Bush senior gar ließ es sich nicht nehmen, die Fabrik zu besuchen, als er 1997 in der Schweiz weilte. Und erst als immer mehr chinesische Nachahmerprodukte auf den Markt kamen, begann Victorinox verstärkt Markenwerbung zu betreiben und die Vorteile schweizerischer Qualitätsarbeit herauszuheben.
"Aber nie", sagt jetzt Karl Elsener, der in seiner Jugend in allen Abteilungen der elterlichen Fabrik gearbeitet hat, "nie haben wir in den Zeiten des Erfolgs die Nachfrage durch Werbung überreizt, wir blieben sparsam mit neuen Produkten und haben Reserven angelegt."
Und das war die Rettung nach dem 11. September 2001, als die Duty Free Shops im Flughafen Frankfurt plötzlich Waren im Wert von einigen hunderttausend Franken nach Ibach als unverkäuflich zurücksandten, erstes Anzeichen der Katastrophe. Auch der Verkauf an Bord der Flugzeuge wurde untersagt. "Unser Messer", sagt Karl Elsener, und noch schwingt in seinen Worten der erlebte Schock mit, "wurde plötzlich diskriminiert. Es kam vor, dass Leute es als Werbegeschenk zurückwiesen, weil sie wussten, dass es ihnen am Flughafen weggenommen würde." Die Messerschmiede Wenger im Schweizer Jura, seit Jahrzehnten der größte Konkurrent, ging an den Folgen des Geschäftsrückgangs zugrunde und wurde von Victorinox übernommen.
"Unser Unternehmen", sagt Karl Elsener, "hatte seit 70 Jahren niemanden mehr aus wirtschaftlichen Gründen entlassen. Das sollte sich nicht ändern. Das war das erste Ziel."
Hülsenpresser, Lupe, Lampe und auch ein Modell mit Datenspeicher
Und also waren, nach Einstellungsstopp und Arbeitszeitverkürzungen, neue Ideen gefragt.
Jetzt gibt es ein Taschenmesser für Golfspieler. Eines für Segler. Die SwissCard, mit allem Zubehör im Kreditkartenformat. Ein Messer, das man in den Computer stecken kann, SwissMemory, integrierter Datenträger, von 256 MB Speicherkapazität bis zu einem GB. Davon gibt es auch eine Flight-Version – ohne Klinge.
Eine weitere Antwort auf den 11. September soll schon bald auf der Hand liegen. Ein nettes Werkzeug für Sicherheitskräfte und Feurwehrleute. Um Fenster einzuschlagen, Glas zu schneiden, Personen zu retten, die das Opfer von Unfällen wurden. Oder von Terroranschlägen. In China, wo seit zehn Jahren immer mehr Fälschungen auf den Markt geworfen werden, die den Geschäftsgang zusätzlich hemmen, hat Victorinox nun selbst eine Niederlassung eingerichtet, welche die Chinesen von den unverbrüchlichen Vorteilen Schweizer Qualitätsarbeit überzeugen soll.
Und vielleicht ist es wieder, wie zur Gründungszeit, die Armee, die der Messerschmiede in Ibach neuen Aufschwung bringt. Die deutsche Bundeswehr hat eine Probebestellung für ein Soldatenmesser aufgegeben, 15000 Stück, ein Feststellmesser, das sich auch mit Handschuhen öffnen lässt, mit Bundesadler statt Schweizerkreuz auf der Schale.
"Es geht wieder aufwärts", stellt Karl Elsener der Vierte fest, "das Tief ist überwunden. Wir wollen in Zukunft mehr als Hersteller von Taschenwerkzeug wahrgenommen werden. Und nicht als Messerfabrikant."
Und dann sehe ich den Katalog, den Katalog der Firma Victorinox, mit sämtlichen 400 Taschenmesser-Modellen mit all ihren wundersamsten Funktionen wie Hülsenpresser, Lupe und Nadelöhr, und ich sehe, wie Herr Schorno erbleicht, der liebenswürdige Pressechef, der mich durch die Firma geführt und Kaffee gebracht und jede Neugier befriedigt hat.
"Nein", stottert er ein bisschen, "den kann ich ihnen leider nicht geben, alle abgezählt, Sie wissen, die Sammler sind hinter ihnen her."
Und jetzt atme auch ich auf. Der Mythos des Schweizer Offiziersmessers lebt weiter. Auch wenn es nie eines war."