Der Suizid, die Selbsttötung, ist eine durchaus vermeidbare Katastrophe, vorausgesetzt, dass man den Lebensmüden rechtzeitig als solchen erkennt und ihn konsequent einer fachgerechten Behandlung zuführt. Nichts ist armseliger als der alleinige Versuch, einen Selbststötungswilligen lediglich davon abzuhalten, Hand an sich zu legen. Was kann man tun, um eine solche Entwicklung bereits im Vorfeld gezielt abzufangen?
Als erstes gilt es eine Reihe gängiger Irrtümer zu korrigieren (siehe Kasten). Dann aber geht es um die Frage: Wie äußert sich eine Suizidgefahr? Hier hat die Suizidforschung im Laufe der Jahrzehnte gewisse Gemeinsamkeiten im Vorfeld einer suizidalen Entwicklung herausgefunden.
Falsche Vorstellungen und Irrtümer
- Wer vom Suizid redet, wird in nicht begehen. Falsch: Auf 10 Suizidanten kommen 8, die unmissverständlich von ihren Absichten gesprochen haben.
- Ein Suizid geschieht ohne Vorzeichen. Falsch: Viele Betroffenen haben sich lange genug durch unmissverständliche Zeichen oder Handlungen bemerkbar gemacht - vergebens.
- Wer einen Suizid begeht, will sich unbedingt das Leben nehmen. Falsch: Die meisten Suizidanten schwanken zwischen dem Wunsch zu leben und zu sterben. Doch kaum einer nimmt diesen Kampf richtig wahr. Und wenn, ist man hilflos: Was tun?
- Wer einmal zum Suizid neigt, wird es immer wieder tun. Falsch: Suizidanten haben im allgemeinen nur während einer begrenzten Zeit ihres Lebens den Wunsch, sich zu töten. Das kann sich allerdings wiederholen.
- Wenn sich eine suizidale Krise auflöst bedeutet das auch das Ende des Risikos: Falsch: Die meisten Suizide geschehen wenige Monate nach Beginn der Besserung, wenn der Patient von neuem die Energie hat, (selbstzerstörerische) Entschlüsse zu fassen und auszuführen.
Besonders zu achten ist auf
- eine wachsende gefühlsmäßige Einengung: Der Betroffene fühlt sich überwältigt, erdrückt, erlebt sich klein, ohnmächtig, hilflos, ausgesetzt und ausgeliefert. Dadurch gerät er in Passivität, Resignation und Hoffnungslosigkeit, was sich in Rückzug und Isolationsneigung äußert.
Ein weiterer Faktor sind
- aufgestaute und nicht abgeführte Aggressionen: Sie entstehen meist aus dem Gefühl einer "ohnmächtigen Wut", gespeist aus vielfältigen Versagungen und Enttäuschungen, von der frühen Kindheit bis heute. Wichtig: Viele dieser Menschen sind aggressions-gehemmt. Kann man also den anderen nichts anhaben, weil man sich nicht getraut, so steht doch ein Opfer stets bereit: die eigene Person ("Aggressionsumkehr").
Die dritte Gefahr ist
- der Rückzug aus der Realität durch Flucht in einer Phantasiewelt: Wer flieht, wird immer hilfloser und ist dem Zwiespalt zwischen Scheinwelt und Wirklichkeit immer stärker ausgeliefert. Zwar ist eine Phantasiewelt nicht nur negativ, doch in diesem Fall hat sie nur ein Ziel: die Selbstvernichtung, die zuerst in aktiv herbeigeführten und später sich passiv aufdrängenden Suizidphantasien vorweggenommen wird.
Alarmzeichen beachten
In dieser aufgewühlten Phase, in der Lebenswille und Sterbenswunsch miteinander heftig in Streit liegen, zeichnen sich bestimmte Alarmzeichen ab: innerlich unruhig, gespannt, nervös, gereizt, Schlafstörungen, Missgestimmtheit, aggressive Durchbrüche, kurz: der Betroffene fällt eher als "unangenehm" bis "lästig" denn als traurig oder verzweifelt auf. Gerade das aber ist häufig sein Hilfeschrei, auch wenn es ganz und gar nicht dem üblichen Notsignal entspricht und meist auch gründlich missverstanden wird. Man muss eben lernen, die verschlüsselten Nachrichten zu enträtseln, weshalb neben den wichtigsten Warnsymptomen auch das Umfeld eine große Rolle spielt (siehe Kasten).
Was spricht für ein erhöhtes Suizidrisiko?
- Frühere Suizidversuche oder suizidale Äußerungen
- Vorkommen von suizidalen Handlungen oder Androhungen im Bereich der Verwandtschaft oder näheren Umgebung (Nachahmungseffekt, Sogwirkung, Identifikationsneigung)
- offene oder versteckte Suizid-Drohungen
- Äußerungen konkreter Vorstellungen über Vorbereitung oder Ausführung
- Selbstvernichtungs- und Katastrophenträume
- "unheimliche Ruhe" nach vorangegangener suizidaler Unruhe, Aufgewühlt-heit und Zerrissenheit
- ängstlich-gespanntes oder getriebenes Verhalten
- langdauernde, zermürbende Schlafstörungen
- unterdrückte Gefühlsausbrüche und Aggressionsstauungen
- Beginn oder Abklingen depressiver Phasen
- biologische Krisenzeiten: Pubertät, Schwangerschaft, Stillzeit, Wechseljahre, Rückbildungsalter
- schwere Schuld- und Unfähigkeitsgefühle
- unheilbare Krankheit oder Wahnvorstellung von einer unheilbaren Krankheit
- Alkoholismus, Rauschgiftsucht, Medikamentenabhängigkeit, Mehrfachabhängigkeit
- familiäre Probleme in der Kindheit (Trennung, Scheidung, Tod eines Elternteils, Stiefeltern, Heimaufenthalt)
- Fehlen oder Verlust mitmenschlicher Kontakte (Vereinsamung, Entwurzelung, Liebesenttäuschung)
- berufliche und finanzielle Schwierigkeiten
- Fehlen eines Aufgabenbereichs und Lebensziels
- Fehlen oder Verlust tragfähiger religiöser Bindungen